Angst als Lebendigkeit ist ein ganz neues Thema für mich. Für mich war Angst jahrelang einfach nur diese Kraft, die mich davon abhält, bestimmte Dinge zu tun. Dabei bin ICH doch diejenige, die die Dinge nicht tut, vor denen ich Angst habe. Ich bin diejenige, die diesen Menschen nicht anspricht, den sie interessant findet, oder den Job kündigt, der vor allem Sicherheit und dafür wenig Lebensfreude bereithält. Was ist, wenn ich mal genau das Gegenteil mache, also da hin gehe, wovor ich Angst habe?
Dieser Gedanke hat mich vor ein paar Monaten auf folgendes Experiment gebracht: Ich spüre, vor was ich gerade am meisten Angst habe, und mache dann genau das. Es sei denn, es ist wirklich lebensgefährlich. Gerade sitze ich in einem Zug und meine Angst sagt mir „spring nicht raus“. Ich höre auf sie. Was ist die nächst größere Angst? „Ich habe Angst, dass wenn ich früh am Morgen (es ist gerade 5.30 Uhr) einen Artikel schreibe, nur Quatsch dabei rauskommt.“ Ich schreibe weiter. Und nutze meine Angst, um den Artikel im Nachhinein nochmal genau zu lesen. Danke Angst für diese Information.
Eine feine Unterscheidung ist notwendig für das Experiment: kommt die Angst aus dem Jetzt, oder kommt sie aus der Vergangenheit? Zum Beispiel habe ich gerade Angst, dass dieser Artikel nicht gut genug sein wird. Dass niemand mehr was von mir lesen will, wenn meine Zeilen hier einem bestimmten Standard nicht entsprechen. Kommt diese Angst aus dem Jetzt? Das heißt, liest jemand in diesem Moment den Artikel, und er gefällt ihm nicht? Nein. Es handelt sich hier um eine Angst, die ich seit der Kindheit mit mir rumschleppe: Die Angst, nicht gut genug zu sein. Wie kann ich diese Angst in mein Experiment mit einbeziehen? Ich kann erstens den Artikel schreiben, in dem Wissen, dass er nicht perfekt sein wird und muss. Und zweitens die „ich bin nicht gut genug“-Information als Tür zu einem emotionalen Heilprozess nehmen, wo ich mir genau diese Wunde aus der Kindheit anschaue und heile. (Ich habe das im Übrigen bei dieser Angst schon gemacht, und der „Ich-bin-nicht-gut-genug“-Glaubenssatz ist soweit geheilt, dass ich diesen Artikel schreiben kann, ohne innerlich dabei einzufrieren.)
Der Monat mit diesem Experiment war einer der lebendigsten in meinem Leben: ich begann meinen Tag draußen mit einem großen Wutgebrüll am Meer, wo ich damals wohnte. Einfach so, weil ich Angst davor hatte. Einmal brüllte ich auch einen illegalen Fischer an, dass das hier ein Naturschutzgebiet ist, und er sich verpissen soll. Ich konnte im Nachhinein selber nicht glauben, dass ich das gerade gemacht habe. Ich schwomm 2 km zu einem wunderschönen Korallenriff, kletterte in unterirdische Höhlen, brachte genau die Konflikte auf den Tisch, die mir Angst machten, schrieb meinen ersten Newsletter, ohne zu wissen, wie das geht, zeigte mich in einem aufgezeichneten Heilprozess der ganzen Welt verletzlich, kurz: ich lebte in einem Monat so viel und intensiv, wie sonst in einem halben Jahr.
Und ich habe seitdem nicht aufgehört mit diesem Experiment. Gerade sitze ich im Zug in ein spanisches Bergdorf, und ich habe keine konkrete Vorstellung, was ich dort tue. Aber meine Angst hat mir gesagt, dass ich dort hin gehen soll. Im Gepäck habe ich einen großen Rucksack, der neben einer Umzugskiste seit einer Woche mein einziger Besitz ist. Ich hatte große Angst vor diesem Umbruch, und merke jetzt die Lebendigkeit darin, alles loszulassen.
Manchmal mache ich bewusste Pausen von dem Experiment, da mein Fokus gerade woanders ist, und mein Nervensystem eine Pause braucht. Und manchmal ist da noch dieser alte Sicherheitsreflex, die unbewusste Angst, die mich das nächste lebendige Abenteuer nicht sehen lässt. Gestern Abend zum Beispiel war ich tief in einer Emotion, die eine großartige Tür für einen Heilprozess war. Aber mein altes Muster lies mich nicht einmal daran denken, einen meiner Mitmenschen zu fragen, für mich Raum zu halten. Ich erzählte mir die Geschichte, dass es schließlich spät war, und alle anderen zu müde. Der Unterschied zu früher: ich DENKE diese undenkbare Möglichkeit. Und ich werde wütend, weil ich die Chance nicht wahrgenommen habe. Ein perfekter Schlüssel, um das nächste Mal einfach wieder in die Lebendigkeit zu springen.
Was ist deine größte Angst gerade? Und wagst du dich, genau dort hin, in deine Lebendigkeit zu gehen?
Meine größte Angst in diesem Moment: diesen Artikel genau hier zu beenden, denn er ist ja noch nicht fertig. Deswegen mache ich genau hier einen Punkt.